„Aus eigener Anschauung“ berichten – das ist laut Lehrbuch der Job des Journalisten. Nichts ersetzt den unmittelbaren Eindruck, kein „Tagesschau“-Bericht, kein Youtube-Video. Zum ersten Mal bewusst wurde mir das beim Besuch des US-Präsidenten George Bush senior 1990 in Speyer. Viele Jahre vor den Terroranschlägen des 11. September waren die Sicherheitsvorkehrungen zwar streng, aber nicht überbordend wie 2013 unter Barack Obama in Berlin. In Speyer sah ich diesen Präsidenten aus nächster Nähe – er stand neben HelmutKohl, der seinen Staatsgästen stets den Dom zeigte. An diesem Tag im November war die Weltpolitik in die kleine Stadt am Rhein gekommen, und ich junger Volontär, frisch von der Uni, durfte dabei sein. Kohl dankte Bush für das Ja der USA zur deutschen Wiedervereinigung, die nur wenige Wochen zuvor endgültig durch den Einheitsvertrag besiegelt worden war. Bush seinerseits warb um Unterstützung für seine Politik am Persischen Golf, wo er dem irakischen Diktator Saddam Hussein ein Ultimatum gestellt hatte, sich aus dem besetzten Emirat Kuwait zurückzuziehen. Für mich war das höchst aufregend. Ich staunte über die scheinbare Lässigkeit der US-Security, obwohl in Speyer seit Tagen Heerscharen von auffällig nervösen Menschen unablässig Vorbereitungen rund um den Dom trafen. Am Abend vor Bushs Auftritt stand ich vor der Bühne, auf der das US-Präsidentenpult noch in Folie gehüllt war, und verfolgte den Sound-Check. Aus den Lautsprechern klang Stings Protestsong gegen den einst von Amerika unterstützten chilenischen Diktator Pinochet, „They stand alone.“ Seltsam, dass man sich an so etwas noch erinnert.
Bush beeindruckte mich durch die Klarheit seiner Ansprache, doch niemand verstand die Selbstinszenierung besser als Bill Clinton, Bushs Nachfolger. Im Mai 1999 kam er in das Aufnahmelager für Kosovo-Flüchtlinge in Ingelheim. Ich war gerade ein paar Wochen Landeskorrespondent in Mainz, und Clintons Besuch werde ich nie vergessen. Zum einen, weil ich versucht hatte, auf verschlungenen Pfaden in jene Wohnbaracke zu gelangen, in der Clinton mit einer geflüchteten Familie sprach, lediglich von drei US-Fernsehsendern beobachtet. Kaum war ich ein paar Meter den Flur entlang geschlichen, nahmen mich zwei Security-Schränke beidseitig hoch und beförderten mich wieder vor die Tür, ohne dass ich noch einen Fuß auf den Boden setzen konnte. „Don’t do this again“, brummte einer. Ich gehorchte.
Der zweite Grund ist die Art, wie Clinton später bei der Pressekonferenz sprach. Er wirkte tief berührt von den Berichten der Kosovaren, die unter der Grausamkeit der Serben litten. Die Frauen zückten ihre Taschentücher, und Clinton sprach von herzzerreißenden Schicksalen. Er rief den Kosovo-Albanern zu: „Sie werden nach Hause zurückkehren – sicher und frei.“ Er sagte es in diesem unnachahmlichen Clinton-Timbre, voller Empathie und Ergriffenheit. Die Flüchtlinge standen auf und applaudierten herzlich. Bundeskanzler Gerhard Schröder, selbst ein begnadeter Selbstdarsteller, verblieb an diesem Tag komplett im Schatten Clintons.
Schröders Tiefpunkt in Bezug auf US-Präsidenten war jedoch seine Begegnung mit Clintons Nachfolger George W. Bush im Jahr 2005. Auch für mich war dieses Treffen in Mainz das schwierigste überhaupt. Die Stadt war komplett abgeriegelt,weshalb ich die Nacht davor auf der ungemütlichen Couch im Mainzer RHEINPFALZ-Büro in der Steingasse verbracht hatte. Die Vermieterin des Büros, die Chefin einer Bäckerei, war wütend. Sie durfte wie alle anderen in der Innenstadt ihren Laden nicht öffnen. „Weesche dem Kerl do!“, schimpfte sie.
Schon früh morgens zogen die ersten Demonstranten lautstark gegen den „Kriegstreiber Bush“ am Büro vorbei. Journalisten mussten sich Stunden vor dem Eintreffen des Gastes aus Amerika im Hof des Kurfürstlichen Schlosses akkreditieren. Es war ein kalter Tag mit Schneeschauern, so kalt wie die Atmosphäre zwischen Bush und Schröder. Beide hatten nicht die die selbe Wellenlänge gefunden, und in den Augen Bushs hatte Schröder seine „uneingeschränkte Solidarität“ mit den USA nach den Anschlägen vom 11. September nie eingelöst. In der Pressekonferenz am Nachmittag sah man in den Gesichtern der beiden, dass bei ihnen auf absehbare Zeit keine tiefe persönliche Freundschaft erblühen würde. Weil der Andrang der Journalisten so riesig und das Pressezentrum zu klein war, bot ich einigen von ihnen einen Platz am Konferenztisch im RHEINPFALZ-Büro an. So voll war es dort noch nie. Am nächsten Tag sah ich im Fernsehen, wie Bush bei seiner nächsten Station in Bratislava ein Bad in der Menge nahm. In Mainz hatte dagegen kein Bürger vor die Tür gedurft. Das war Bushs kleinkarierte Rache an den Deutschen.
Obama begegnete ich dreimal: in Dresden sowie in Berlin vorm Brandenburger Tor und auf Abschiedstour im Kanzleramt bei Angela Merkel zum Ende seiner zweiten Amtszeit. Am riskantesten war für die Sicherheitsleute sein Auftritt 2013 auf dem Pariser Platz im Herzen der Hauptstadt. Wir Journalisten mussten uns im Bundespresseamt einfinden, wurden durch Körperscanner gejagt und dann durch die Tiefgarage in einen Kleinbus geschleust. Der Wagen wurde von außen versiegelt, wohl um zu verhindern, dass während der Fahrt jemand zu- oder ausstieg. Danach fuhren wir wenige Meter zum Brandenburger Tor, wo wir zur Pressetribüne geleitet wurden. Die Berliner Innenstadt war rote Zone, jeder unserer Schritte geschah unter Aufsicht.
Obama selbst sprach hinter einer riesigen Scheibe aus Panzerglas. Er startete eine Charmeoffensive, schließlich waren kurz zuvor die geheimen Abhöraktionen der NSA bekannt geworden, die auch das Handy der Kanzlerin betrafen. Als Obama in der brütend heißen Juni-Sonne sein Jackett auszog, sollte das symbolisch erscheinen: Unter Freunden kann man auch etwas lockerer sein. Und zum vorerst letzten Mal hörte man aus dem Mund eines US-Präsidenten, dass Deutschland ein „entscheidender Partner“ für die USA sei.
Mit Obama schloss sich der Kreis der Präsidenten-Besuche seit Bush senior. Es waren historische Wegmarken: von der Wiedervereinigung über den Krieg im Balkan und den Folgen der Terroranschläge vom 11. September wieder zurück zur deutschen Einheit, die dadurch dokumentiert wurde, dass Obama der erste US-Präsident war, der auf der Ostseite des Brandenburger Tores sprach. VON WINFRIED FOLZ