Es war Heiligabend 1990, als Wilfried Hub den für ihn schicksalhaften Anruf von seinem Chef Günter Krall erhielt. Der stellvertretende Chefredakteur der RHEINPFALZ fragte den damals 32-Jährigen, ob er sich vorstellen könne, ins Vogtland zu gehen, nach Plauen. Am 2. Oktober, einen Tag vor der Wiedervereinigung, hatte die Medien Union die ehemalige SED-Parteizeitung „Freie Presse“ mit Hauptsitz in Chemnitz gekauft. Bereits am 2. Januar 1991 machte sich der aus Zweibrücken stammende Redakteur, zu dieser Zeit stellvertretender Lokalchef in Pirmasens, auf den Weg nach Osten. „Es war schon seltsam“, erinnert sich Hub. „In den Räumen in Plauen gab es nur einen alten Ofen, den ein Heizer morgens um7 Uhr anwarf, damit es warm war, wenn die Kollegen eintrafen. In der gesamten Redaktion existierte zu der Zeit gerade mal ein Telefon, ein Fernschreiber und ein Computer mit Textverarbeitungsprogramm.“ Von den vier Kollegen vor Ort habe nur einer, der Lokalchef, überhaupt eine journalistische Ausbildung gehabt. „Der Sportredakteur beispielsweise spielte im Verein Fußball, das war seine Qualifikation für den Beruf“, erzählt der Journalist. Trotzdem sei ihm nach einer Woche klar gewesen, dass er in der damals noch 80.000 Einwohner zählenden Stadt bleiben würde: „Es war alles so schrecklich, dass ich nur erfolgreich sein konnte.“ Einmal noch ging es zurück in die Pfälzer Heimat – um den Schreibtisch in Pirmasens auszuräumen und zu packen. Danach hieß die neue Heimat Plauen. In einer Ferienhaussiedlung außerhalb der Stadt fand er eine vorübergehende Bleibe und hatte so manches Mal seine liebe Not, den Arbeitsplatz zu erreichen. „Es war ein harter, schneereicher Winter damals, und die Straßen waren selten geräumt“, erzählt Hub. Abenteuerlich gestalteten sich deshalb auch die Fahrten ins rund 40 Kilometer entfernte Zwickau, die nötig wurden, wenn die Technik mal wieder versagte. „Wir schrieben unsere Texte alle auf der Schreibmaschine, die Sekretärin erfasste sie dann am Computer und schickte sie per Modem los“, erinnert sich Wilfried Hub. Alle acht bis zehn Tage verweigerte das Modem jedoch den Dienst. Dann hieß es, die Texte auf Diskette zu ziehen und in die Druckerei nach Zwickau zu fahren. Arbeitsbedingungen, die in der alten Heimat unvorstellbar waren. Auch wichtige Ansprechpartner in Politik,Wirtschaft oder Kultur hätten damals noch keine Telefonanschlüsse gehabt. Da bleib nur: „Hingehen und an der Tür klopfen und hoffen, dass man jemanden antraf …“
Ungewohnt sei anfangs auch gewesen, dass die Kollegen nicht mit ihren neuen Lokalchefs diskutieren wollten. „Sie fragten immer, was sie denn machen sollten, was sie schreiben sollten, und erwarteten Anweisungen“, erinnert sich Hub. Kritisches Hinterfragen – egal ob es nun Aussagen und Meinungen der Gesprächspartner oder auch des eigenen Chefs betraf – hätten viele erst mühsam lernen müssen.
Auf allen Feldern war Pioniergeist gefordert. Der Kollege aus dem Westen war nicht nur als journalistischer Ausbilder gefragt, er organisierte auch eine Bleibe für die Volontäre, die aus der Zentrale in Chemnitz nach Plauen kamen, er suchte neue Räume für die Redaktion und fungierte in der Umbauphase auch schon mal als „Bauleiter“.
Wilfried Hub denkt gerne an diese Anfangszeit zurück, an die gute Zusammenarbeit mit den meist jungen Kollegen, den Zusammenhalt und das gemeinsame Bierchen am Abend. „Die Vogtländer sind sehr bodenständig, aber auch sehr offen“, sagt er. Genauso wie die Pfälzer liebten sie es zu essen, zu trinken und zu feiern. Ablehnung habe er als „Wessi“ nicht erfahren, wohl auch, weil er gleich vor Ort gewohnt habe und nicht gependelt sei. „Ich war schnell integriert und habe mich wohlgefühlt“, erzählt er. Und das ist wohl auch einer der Gründe, warum Hub – nach beruflichen Zwischenstationen in Braunschweig und Berlin – 2005 wieder nach Plauen zurückgekehrt ist.
„Es gab journalistisch nichts Spannenderes zu der Zeit“
Nur vier Monate nach seinem Kollegen Hub zog es Christoph Ulrich nach Osten. Der Wirtschaftsredakteur der RHEINPFALZ hatte sich auf eine Stellenausschreibung der „Freien Presse“ beworben. Für die dortige Wirtschaftsredaktion wurde ein Chef gesucht. „Ich war überzeugt, dass es zu diesem Zeitpunkt journalistisch nichts Spannenderes gab, als in den neuen Ländern etwas aufzubauen“, erzählt er. Aufgewachsen in der Nähe von Wolfsburg, also ganz in der Nähe der innerdeutschen Grenze, hatte Ulrich sich schon früh für die DDR interessiert und sich auch während des VWL-Studiums eingehend mit dem „sozialistischen“ Wirtschaftssystem auseinandergesetzt.
Wirtschaftliche Fachkenntnisse, das musste Ulrich nach seinem Wechsel in den Osten der größer gewordenen Republik schnell feststellen, hatten damals nur die wenigsten Kollegen. Nach und nach wurde das Ressort umgebaut, Kollegen in andere Verlagsbereiche versetzt, aber in der Regel niemand entlassen, erinnert sich Ulrich. Problematisch sei vor allem die anfängliche Unfähigkeit gewesen, sich kritisch mit Sachverhalten auseinanderzusetzen und selbst auch einmal Kritik auszuhalten. „Das war für viele ein Lernprozess.“ Auch die Wahrheit, so erinnert er sich,wurde nicht immer gern gehört. „Ich habe einmal in einem Leitartikel prognostiziert, dass auch im Osten die Mieten steigen werden. Danach hagelte es Abbestellungen.“
Genau wie sein Kollege Hub kämpfte auch Ullrich zu Beginn mit veralteten Computern, fehlenden Telefonverbindungen – und den harten Wintern. „Da fuhr ich in Neustadt, wo ich bisher gewohnt hatte, weg – und die Mandeln blühten. In Chemnitz dagegen lag meterhoch Schnee – und ich musste meinen Weg zu der Datsche mitten im Wald, in der ich vorübergehend untergekommen war, freischaufeln“, erinnert er sich. Einmal sei er nach stundenlanger Fahrt angekommen, verschwitzt und müde, und dann habe es kein Wasser gegeben: Leitung eingefroren. Das nächste Mal war Ulrich dann vorbereitet und brachte einige Kanister Wasser aus Neustadt mit, um nicht ungewaschen zur Arbeit erscheinen zu müssen. Diese Vorsichtsmaßnahme brachte ihm allerdings den Ruf des verwöhnten „Wessis“ ein, der sogar sein eigenes Wasser aus der alten Heimat importiere, erzählt Ulrich. Das habe er aber erst viele Jahre später erfahren – in einem vertraulichem Gespräch an einer Bar.
Am Anfang „technisch wie geografisch orientierungslos“
„Wessis“ sind nicht nur verwöhnt, im Westen herrscht auch Konkurrenzdenken, und Schwächere werden niedergemacht. Die Bundesrepublik als reine Ellenbogengesellschaft, dieses Bild habe in der DDR vorgeherrscht, erzählt Barbara Till, die 1990 aus Thüringen zur RHEINPFALZ kam.Geboren im Vogtland, hatte die damals 39-Jährige bereits bei Zeitungen in Schwerin und Leipzig gearbeitet, bevor sie sich 1987 „vom DDR-System verabschiedete“ und eine Stelle in einem Museum im ostthüringischen Burgk annahm. Da ihre Schwägerin auf dem Weiherhof wohnte, hatte Till enge Kontakte in die Nordpfalz und bewarb sich daher 1990 – erfolgreich – bei der RHEINPFALZ.
Und dann die Überraschung: „Ich wurde überall ausgesprochen herzlich aufgenommen. Die Kollegen waren freundlich, offen und ausgesprochen hilfsbereit“, erinnert sie sich. In ihren ersten zwei Monaten, die sie in der Lokalredaktion Ludwigshafen verbracht habe, sei alles neu und ungewohnt gewesen. „Ich war technisch wie geografisch völlig orientierungslos“, erzählt sie lachend. Nie zuvor hatte sie an einem Computer gearbeitet. Und wo Altrip, Limburgerhof oder Dannstadt-Schauernheim liegen, musste sie auch erst noch lernen.
Die Anpassung an den Pfälzer Lebensstil fiel ihr dagegen leicht. „Das Leben hier ist leicht und heiter, die Menschen sind kontaktfreudig und offen“, sagt sie. Ihr Mann habe einem alten Bekannten gegenüber das neue Leben im Südwesten der Republik einmal folgendermaßen charakterisiert:„ Wir kommen hier mit dem Feiern gar nicht mehr hinterher.“
Und auch das journalistische Arbeiten sei von Anfang an sehr angenehm gewesen: „Der Handlungsspielraum war plötzlich riesig, niemand griff ein – weder von außen, von der Politik, noch von innen, von den Vorgesetzten“, erinnert sich die inzwischen pensionierte Journalistin, die weiterhin in Kirchheimbolanden lebt. In ihren Redaktionen in Schwerin und Leipzig sei immer klar gewesen, was man schreiben konnte und durfte, erzählt Barbara Till. „Man hatte die Schere schon im Kopf.“ Deshalb habe sie auch der selbstbewusste Umgang der Kolleginnen und Kollegen mit Verwaltung, Wirtschaft und Politik – bis hinauf zum damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl – anfangs so beeindruckt.
„Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut“, betont Barbara Till. Als ehemalige DDR-Bürgerin sei ihr das vielleicht etwas bewusster als anderen. Auch wenn es manchmal schwierig sei, müssten Journalisten stets eine gewisse Distanz zu den Entscheidungsträgern in Politik und Wirtschaft wahren, mahnt sie: „Man darf nicht mit den Mächtigen kuscheln.“
„Ich war trinkfest und nicht zimperlich, das half“
Mit den Mächtigen gekuschelt hat Anne Stegat nie. Eher die Zähne gezeigt und die Konflikte ausgefochten. Auch mit kirchlichen Würdenträgern, die in Speyer, wo sie rund zehn Jahre als Kulturredakteurin tätig war, durchaus Einfluss besitzen. Geboren und aufgewachsen in Zschopau im Erzgebirge, promovierte sie 1986 in Berlin. „Ich wollte die erste Professorin fürMusikwissenschaft in der DDR werden“, erzählt die heute 61-Jährige. Doch dann kam die Wende und mit ihr der große Umbruch in der Hochschullandschaft. „Alle Führungsebenen und auch der Mittelbau an den Universitäten in der DDR wurden damals mit Westdeutschen besetzt“, erinnert sie sich. „Mir war klar, jetzt hatte ich erst mal keine Chance mehr. Und wenn all die Wessis in den Osten kommen, dann mache ich das jetzt einfach umgekehrt“, dachte sich Anne Stegat.
Die Anregung, sich für ein Volontariat bei der RHEINPFALZ zu bewerben, war von ihrem Vater gekommen,dem damaligen Feuilleton-Chef der „Freien Presse“. Und diese Ausbildung sei für sie ein regelrechter „Crashkurs Einwanderung“ gewesen. „Wie funktioniert dieses Land, welche Ämter sind für was zuständig, wie laufen Haushaltsberatungen ab – all diese Fragen wurden im Volontariat behandelt. Die Ausbildung war wirklich sehr gut“, blickt sie zurück.
Ab 1994 hieß die neue Heimat nun Pfalz, oder besser: Speyer. Sie habe sich gleich wohlgefühlt, erzählt Anne Stegat, obwohl manchen eine gewisse Skepsis gegenüber der promovierten Frau aus dem Osten anzumerken war. „Aber ich war trinkfest und nicht zimperlich, das hat geholfen.“ Auch die Dialekthürde hatte sie schnell überwunden. Nur ihr Traum, die Kunstszene Ostdeutschlands dem Pfälzer Publikum näherzubringen, hat sich nicht erfüllt. Da habe das Interesse in der Leserschaft gefehlt. Heute, fast 30 Jahre später, habe sich das ein wenig geändert.
Geändert hat sich in diesen knapp drei Jahrzehnten auch die Lebensplanung der Journalistin. Anne Stegat, die 1992 die „Rückreise“ Richtung Osten fest eingeplant hatte, hat in der Pfalz ihre große Liebe gefunden und fährt allenfalls noch zu Verwandtenbesuchen in die alte Heimat.
VON ANNETTEWEBER / FOTOS: SCHINNERLING, MOHR, STEPAN, WEBER
ZUR PERSON
— Wilfried Hub, Jahrgang 1958, arbeitete von 1980 bis 1990 in den RHEINPFALZ-Lokalredaktionen Zweibrücken, Ludwigshafen und Pirmasens. Bei der „Freien Presse“ war er zuerst Lokalchef in Plauen, schließlich Chefredakteur. Nach journalistischen Zwischenstationen in Braunschweig und Berlin übernahm er 2005 den damals insolventen „Vogtland-Anzeiger“ in Plauen, dessen Herausgeber er heute ist.
— Christoph Ulrich, Jahrgang 1958, von 1988 bis 1991 bei der RHEINPFALZ, ab Februar 1991 Ressortleiter Wirtschaft bei der „Freien Presse“, inzwischen Chefkorrespondent Politik undWirtschaft.
— Barbara Till, Jahrgang 1951, kam 1990 aus Thüringen zur RHEINPFALZ. Von 1991 bis 2015 arbeitete sie in der Redaktion Kirchheimbolanden, ab 1994 als Lokalchefin.
— Anne Stegat, Jahrgang 1959, von 1992 bis 2004 bei der RHEINPFALZ, davon rund zehn Jahre als Kulturredakteurin in Speyer.