Bei seiner Geburt habe seine Mutter gerade auf einem Seil den Rhein überquert, weswegen er auf dem französischen, sein Bruder auf dem deutschen Ufer zur Welt gekommen sei. Das erzählt der Autor, Journalist, Filmemacher und Kabarettist Martin Graff gerne bei seinen Auftritten. Elsässische Biografien haben ja manchmal durchaus etwas Artistisches. Das Bild der Seiltänzerin und die Zufälligkeit des Geburtsorts, der mal das eine – deutsch – mal das andere – französisch – war, sind Symbole mit Aussagekraft. Nun, die Mutter, die fast 100-jährig 2019 gestorben ist, hat die heimatlichen Vogesen nie verlassen und doch drei Mal die Staatsangehörigkeit gewechselt. Die Generation vor ihr brachte es gar auf fünf Mal. Der Vater hat zuerst in französischer und dann – zwangseingezogen – in deutscher Uniform gekämpft, gefallen 1945, wenige Monate nach der Geburt des Sohns, irgendwo in den polnischen Beskiden. Da soll man nicht ins Taumeln geraten.
„Vertiges“ hieß eines der ersten Bücher, das Martin Graff veröffentlicht hat. Geboren wurde er 1944 im Munstertal, der Heimat Albert Schweitzers. Wie dieser hat er Theologie studiert, auch Romanistik und Philosophie, als protestantischer Pfarrer in Straßburg Martin Graff und in Sarreguemines gepredigt – um dann als Volontär beim Saarländischen Rundfunk seine Gedankenschmuggler-Laufbahn einzuschlagen: als Autor von mittlerweile über 30 Büchern, deutsch wie französisch, von Hör- und Fernsehspielen, Dokumentarfilmen, mehrfach ausgezeichnet mit dem deutsch-französischen Journalistenpreis. Seine Themen: das Elsass, Deutschland, Frankreich und Europa. Und immer wieder Grenzen. So wie in der Kolumne „Zungenknoten“, die seit 2003 in der RHEINPFALZ erscheint und in der er mit der deutschen wie der französischen Sprache jongliert.
Im Auftrag des Europarats bereiste er europäische Grenzregionen vom Nordkap über die Karpaten bis ins Baskenland. „Voyage aux jardins des frontières“ hieß das Buch dazu, das nie ins Deutsche übersetzt wurde. Ein anderes, „Donauträume“, entstand nach der gleichnamigen ZDF-Serie, einer Reise vom Schwarzen Meer bis zur Donauquelle im Schwarzwald Ende der 1990er-Jahre, mit Grenzerfahrungen in Landstrichen, in denen gerade ein mörderischer Krieg zu Ende gegangen war.
Auch wenn er immer wieder als Kabarettist den Finger in die Wunde legt und Polemik durchaus nicht scheut: Martin Luther, Albert Schweitzer sind irgendwie im Hintergrund dabei, so wie Montaigne, Paul Ricoeur und andere. Zum Beispiel Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Isidore Lumière, Rektor der Gedankenschmuggler-Universität der Hochvogesen (und enger Freund der Seiltanz-Mutter: siehe oben). VON DAGMAR GILCHER