Einen ungünstigeren Zeitpunkt für einen Bericht über das aufregende Leben eines Auslandskorrespondenten hätte man nicht wählen können. Seit mehr als einem halben Jahr sitze ich nun schon in meinem Büro, in einer Holzhütte am Hang hinter unserem Johannesburger Haus: Nur den Blick nach Norden in Richtung meines „Beritts“ gerichtet, der aus den 49 südlich der Sahara gelegenen afrikanischen Staaten besteht. Das Corona-Virus – oder besser: die allzu menschliche Reaktion darauf – hat aus dem rasenden Reporter einen Wurzeln schlagenden Eremiten gemacht: Fünf Wochen lang durfte ich lediglich zum Einkaufen das Haus verlassen, weitere fünf Wochen lang keine Provinzgrenze überschreiten. Bis zum 1. Oktober sollen die südafrikanischen Grenzen geschlossen bleiben. Ohne Internet und Telefon wäre ich völlig aufgeschmissen.Nicht mal beim Chefredakteur kommt Freude auf, obwohl dieser Tage keine Reisekosten anfallen: ein Posten, der in Zeitungsredaktionen gewöhnlich wie ein Schatz gehütet wird. Bei der RHEINPFALZ ist das anders: Dort ist man froh, wenn der Korrespondent endlich wieder sein Ränzlein schnürt, um aus der Wüste Kalahari (Paul Münch: „des isch e Wiescht, e schauderbari), aus der simbabwischen Staatsruine, über die somalischen Piraten oder die kenianische „Silikon Savannah“ zu berichten.Ein Korrespondent, der nicht reist, ist wie ein Maler ohne Farben: Seine Bilder müssen grau wie der Himmel über Homburg bleiben. Wer sein Berichterstattungsgebiet nicht aus eigener Anschauung kennt, kann nur wie Karl May über den Wilden Westen schreiben: hausbacken, grobschlächtig und voller Vorurteile.
Neben der Corona-Pandemie und den weniger aufgeschlossenen Chefredakteuren hält allerdings auch meine Frau vom Reisen nicht viel: Sie ist überzeugt davon, dass es sich bei meinen Exkursionen an den Indischen Ozean, in den kongolesischen Urwald oder durch die Sahara um Lustfahrten handelt. Als ob es lustig wäre, sich nachts auf Bananenblättern zur Ruhe zu legen, tagelang auf ein Interview mit einem Präsidenten zu warten oder von schießwütigen Luftpiraten in einem Flugzeug entführt zu werden.
Immerhin blieben mir in meinem ein Vierteljahrhundert währenden Korrespondentenleben bislang wenigstens Krankheiten erspart, die manchen Kollegen auf die Matte warfen: Giftspinnen, Parasiten im Blut, bleierne Müdigkeit oder Würmer unter der Haut. Habe ich ein Klischee vom Kontinent der Kriege, Krankheiten und Katastrophen noch nicht erwähnt?
Zu leugnen, dass Afrika ein raues Terrain ist, wäre Augenwischerei. Doch der 3-K-Kontinent ist darüber hinaus noch viel mehr: Die Wiege der Menschheit (knapp 50 Kilometer von meiner Holzhütte entfernt wurde der drei Millionen Jahre alte „Little Foot“ aus dem Stein gemeißelt), die Heimat der Kunst (schon mal dem sphärischen Gesang der „Pygmäen“ im Urwald gelauscht?) und eine Hochburg der Lebensfreude (die selbst in Slums über die triste Wirklichkeit triumphieren kann). Vor allem aber ist Afrika ein Kontinent mit mehr als 1,2 Milliarden Menschen, die alle so gleich und verschieden sind wie wir Europäer: Sie streiten und sie lieben sich und versuchen, den Kopf über Wasser zu halten.
Ein Chefredakteur bläute mir einst ein, mich „endlich mal um etwas Interessantes“ zu kümmern – als ob Lagos, Addis Abeba oder Johannesburg etwas für Langweiler und nicht die aufregendsten Städte dieser Erde wären. In meiner Wahlheimat kann ich morgens ein Croissant mit Mispelmarmelade essen, mittags in die Moschee gehen und abends in einer Township-Spelunke versumpfen. Oder ich besuche morgens die Löwen, esse mittags Chicken Tikka Masala und gehe abends in die Synagoge. Selbst im Winter kann ich mir einen Sonnenbrand zuziehen und mich das ganze Jahr über hochprofessionell ausrauben lassen. Was will man mehr?
Selbstverständlich gibt es hier auch todtraurige Dinge: die Armut, das Unrecht, die machtvernarrten Greise und die Redakteure in Deutschland, die auch heute wieder keinen Platz im Blatt für Geschichten aus dem wilden Süden finden. Am meisten tut mir derzeit der Verfall meiner Wahlheimat weh.
Als ich vor 30 Jahren zum ersten Mal nach Johannesburg kam, wurde gerade die Regenbogennation aus der Taufe gehoben: Nelson Mandela, Befreiung und Versöhnung, die Menschheit schlug ein neues Kapitel voller Hoffnung auf. Inzwischen kommt der Regenbogen höchstens noch in zynischen Witzen vor,weil es Nelson Mandelas „Comrades“ vom Afrikanischen Nationalkongress vor allem auf die Goldtöpfe an den beiden Enden des Regenbogens abgesehen haben – ohne zu wissen, dass diese längst von ihren weißen Landsleuten ausgeplündert worden sind.
Das „weiße Monopolkapital“, die räuberischen Seilschaften des korrupten Ex-Präsidenten Jacob Zuma und jetzt noch die Corona-Pandemie: Sie scheinen dem Kap endgültig die Gute Hoffnung geraubt zu haben. Zwar sind die Bäume vor meinem Holzhaus auch in diesem Frühling wieder grün geworden: Doch die Dämmerung können auch sie nicht verbergen. Unsere beiden adoptierten afrikanischen Kinder haben nicht viel, aber zumindest eines gemeinsam: Sie wollen so schnell wie möglich nach Deutschland verschwinden. Ob sie irgendwann zurückkehren werden? Ich gehe keine Wette darauf ein. VON JOHANNES DIETERICH