Kennen Sie „Bing"? Hundert Jahre früher gefragt, hätten Sie wohl gesagt: Klar, kennt doch jeder, vor allem das Spielzeug. Denn Bing, das war mal die größte Spielwarenfabrik der Welt - und nicht nur das. Wer mehr erfahren will, kann im Spielzeugmuseum Freinsheim dieser Spur folgen.
Einer Spur, auf die auch Uwe Groll erst gesetzt wurde, als seine Frau Marion ihn Mitte der 90er Jahre mit einer alten Aufzieh-Lok, einem Flohmarkt-Mitbringsel, mit dem Bing-Virus infiziert hatte. „Und für die Lok brauchte man ja noch Schienen...", sinniert der 56jährige und deutet damit an, wie so eine Sammelleidenschaft in Gang geraten kann. Eins kam zum anderen, und was da alles zusammenkam, ist seit 2011 in den verwinkelten Räumen des Museums in zahllosen Vitrinen zu bestaunen. Seine Frau und er betreiben es, verbunden mit einem Eiscafé - eine „Schleuse" in die Tiefen dieser Sammlung. Im Café bleibt allerdings mancher hängen, ohne die Schwelle in die Schatzkammern zu überschreiten, wie Groll anmerkt, schmunzelnd wie bedauernd.
Bing: Das heißt vor allem Blechspielzeug der Jahrhundertwendezeit bis hinein in die frühen 30er Jahre. Verblüffend, was damals aus solchem Material alles geschaffen wurde - Eisenbahnen in kaum überschaubarer Vielfalt, Größe, Spurbreite, alles liebevoll Originalen nachempfunden - darunter etwa der Pariser Metro oder Hochbahnen der Zeit. Aufziehbare Federwerke, Dampf und früh schon elektrischer Strom sorgen für Antriebe. Dazu Schienen, Waggons, Häuser, Bahnhöfe. Auch Dampfmaschinen, die Jungenherzen höher schlagen ließen, stehen da, Automobile im Schnauferl-Look ihrer Zeit, Flugzeuge, Boote, Figuren, Mini-Druckpressen, Dampfwalzen oder Haushaltsgegenstände wie Herde für die Puppenstube. Manches überrascht: Funktionsfähige Kinder-Plattenspieler aus den 20er Jahren (,,Kiddyphone", „Bingola") etwa, die kleine Schellackplatten via Kurbel und mechanisch verstärkt abspielen konnten. Abgerundet wurde das Sortiment auch durch Spielwaren aus anderen Materialien, Puppen, Teddys, Gesellschaftsspiele. Ein ganzes Universum tut sich da auf, mit anheimelndem Charme.
Ein reines Nostalgie-Museum ist das aber nicht. Denn kaum noch jemand, es sei denn, er oder sie ist hochbetagt oder hätte solches Spielzeug geerbt, wird hier die Spielsachen seiner Kindheit vorfinden. Von Ignaz und Adolf Bing in den 1870er Jahren als Metallwaren-Fabrik gegründet, nahm das Unternehmern in der Folgezeit Spielwaren als rasch prosperierender Geschäftszweig hinzu.
Produziert wurde, wie Groll anmerkt, eher für einen Massenmarkt mit großen Stückzahlen und Vertrieb etwa über Kaufhäuser wie Hertie. Märklin, das etwa gleichzeitig mit Bing entstand und die Eisenbahnträume in den Kinderstuben bediente, sei da eher die hochpreisige Variante gewesen. Der Fokus auf Bing und die begrenzte Zeit des Erfolgs dieses Konzerns, der zeitweise 20.000 Mitarbeiter beschäftigt hat, gibt Grolls Museum freilich eine besondere Note. Denn es ist eben auch ein- oder sogar: ,,das "Bing-Museum. Einblicke in andere Konzernsparten gehören dazu, vor allem bei Haushaltswaren war die Firma erfolgreich - vieles findet sich davon in Freinsheim wie Schreibmaschinen, Bügeleisen, Grammophone, Badeöfen auch Filmprojektoren. „Die Grenzen zwischen Spielwaren und Haushaltsgeräten verschwimmen da oft", merkt Groll an, der als Wirtschaftsingenieur im Bereich Holzrecycling tätig ist und im Betrieb des Museum auch Umweltaspekte berücksichtigt.
So dokumentiert das Museum Wirtschafts- und Industriegeschichte in vielen Facetten - auch rechtlichen. Erinnert wird etwa an einen Streit mit Käthe Kruses Puppenfirma. Gesichter dieser Puppen hatte Bing für eigene Puppen nachempfunden. Kruse behielt Recht, womit erstmals jenseits technischer Entwicklungen ein künstlerisches Urheberrecht für das Design von Spielzeug rechtlich verbrieft worden sei, wie Groll erzählt.
Das Haus ist aber ganz grundsätzlich ein Schaufenster in eine andere Zeit und schreibt mit der Spiegelung ihrer Welt im Spielzeug Kulturgeschichte, lässt damit eine Epoche in ihrer Vielfalt und Farbigkeit aufleben, ihren Alltag, Haushalt, Arbeitswelt. Diesen kulturhistorischen Aspekt hat Groll unlängst noch verstärkt durch wandfüllende Fotografien aus der Frühzeit des letzten Jahrhunderts, etwa Bahnhofsszenen, die eine Brücke schlagen zu den zahllosen Modellbahnen in der Ausstellung.
Und was wurde aus Bing? Die Weltwirtschaftskrise 1929 hat das Unternehmen nur schlecht weggesteckt, es musste Teile der Produktion aufgeben, wie Groll berichtet. 1932 kam es zur Insolvenz, zwei Jahre später führte ein Zwangsvergleich zum Ausverkauf und der Zerschlagung des Unternehmens. Auch die NS-Zeit warf ihre Schatten auf das Unternehmen und die Familie, die jüdischer Abstammung war. Ignaz Bings Sohn Stephan musste 1938 nach England fliehen. Sein Name ist eng mit der Trix-Modelleisenbahn, die er ab 1932 mitentwickelt hat und die heute von Märklin vertrieben wird. Im Nürnberger Stammhaus von Bing residiert heute der Rüstungskonzern Diehl. Ein altes Logo an der Fassade erinnere an Bing - aber keine Gedenktafel, bedauert Groll das dort geringe Interesse.
Die Schätze der Ausstellung mit ihren über 2000 Exponaten vermutet man nicht in dem kleinen Haus, das versteckt in einem malerischen Winkel Freinsheims mit viel historischer Patina gelegen ist. 2010 hat Groll das verwaiste Gebäude, das zu den ältesten der Stadt zählt, mit seiner Frau gekauft und ein Jahr lang saniert und umgebaut für seinen künftigen Zweck. Corona hat Groll genutzt, um die Ausstellung zu modernisieren. Audio-Guides kamen hinzu, Beschriftungen wurden erneuert. Gut 4000 Besucher lockt die Sammlung jährlich an, die sich faszinieren lassen von der Spielwelt einer anderen Zeit und dem Leben, das sich darin widerspiegelt. Thomas Behnke
INFO
Historisches Spielzeugmuseum Freinsheim, An der Bach 9; von Oktober bis März geöffnet Sa, So und feiertags, 14-18 Uhr, ansonsten täglich von 14-18 Uhr
TIPPS
Freinsheim hat viel zu bieten. Ein Besuch im Spielzeugmuseum kann verbunden werden mit einer Besichtigung der Sehenswürdigkeiten der Stadt, allem voran die das Ortsbild prägende spätgotische Stadtmauer mit ihren wuchtigen, massiven Toren, die barocke Stadtmitte, der Barockgarten, das Handwerkermuseum im Torturm (geöffnet an Sonn- und Freitagen, 13-18 Uhr). Hochkarätige Konzerte werden im Bürgersaal Von Busch Hof veranstaltet, mit dem Theader im Casinoturm beherbergt die Stadt zudem Deutschlands wohl kleinstes Theater. bke