Boris Eldagsen bezeichnet sich nicht als Fotograf, sondern als „Künstler, der mit Fotografie arbeitet“. Was viel mehr ist. Auch wenn er heute vorwiegend mit KI arbeitet und dazu Vorträge und Workshops hält, ist er extrem vielseitig. Eine Retrospektive seiner Arbeiten von 1988 bis 2023, die erste überhaupt, wird jetzt in der Alten Post in Pirmasens gezeigt. Dort, wo alles begann. „Ich habe angefangen mit Zeichnungen, mit fotorealistischen Bleistiftporträts“, erzählt der 53-Jährige. Sie zeigen oft Männer in nachdenklichen Posen, Eldagsen selbst, aber auch Man Ray und Dalí. Als Eldagsen das Porträtzeichnen beherrschte, war es für ihn uninteressant geworden. Er begann zu experimentieren.
Entscheidend war das Jahr 1987, als die Schüler der zwölften Klasse des Hugo-Ball-Gymnasiums auf DDR-Fahrt gingen. Ein Mitschüler fotografierte permanent, auch in Weimar das Goethe-Schiller-Denkmal, auf dem beide Dichter gemeinsam einen Lorbeerkranz halten. „Fotografiere doch mal durch den Lorbeerkranz“, riet Boris Eldagsen seinem Freund. Wenig später wollte er auch selbst fotografieren. Der Vater gab dem 17-Jährigen seine Kamera und zwei Ratschläge:
„Belichtung nie unter 30, und die Blende muss passen“, erinnert er sich.
Zehn Jahre lang habe er so fotografiert und im Labor der Schule die Fotos entwickelt. Auf dem weiteren Weg geholfen hat ihm Michael Fehring, sein Kunstlehrer, später der Pirmasenser Verein Kunstprozesse. Oliver Kelm, Ralf Peifer, Christian Lambert und Frank Krämer waren Eldagsens Künstlerfreunde, doch während die anderen in Saarbrücken Kunst studierten, ging Eldagsen nach Mainz:
„Nach dem Zivildienst wollte ich schnell weg, habe zuerst im Wintersemester 1991/1992 in Köln Philosophie studiert und wollte dann in den Kunstbereich. Nur Mainz und Siegen haben zum Sommersemester Studenten aufgenommen. Aber auch das reichte Eldagsen bald nicht mehr. Nach der Zwischenprüfung ging er an die Hamburger Kunsthochschule, wo Anna und Bernhard Blume lehrten, die für ihre Serien großformatiger Fotos mit inszenierten Geschichten berühmt waren.
Nun hatte Eldagsen das gefunden, was ihn am meisten interessierte: Fotos als Grundlage für Inszenierungen, die ein Foto, ein Video, eine Performance, eine Installation sein können. Mit einem Fotografen, der aufnimmt, was er sieht, hat das wirklich wenig zu tun. Und mit seinem Studium, Kunst und Philosophie fürs Lehramt, auch nicht. „2000, als ich das zweite Staatsexamen hatte, war New Economy. Ich mochte das Internet und bin mit der Branche gewachsen.“ Er entwickelte Strategien für Online-Kampagnen mit dem Schwerpunkt Social Media, für Audi hat er damals sogar die weltweiten Leitlinien auf diesem Gebiet geschrieben. „Mein letzter großer Job vor der Pandemie war ,Promi Big Brother': Zlatko kehrt zurück ins Big-Brother-Haus. Mein Prüfungsthema beim Lehramtsstudium war: Verstößt Big Brother gegen die Menschenrechte? Dass ich 20 Jahre später da mal mitarbeite, war interessant für mich.“
Von seinen Fotos konnte das seit 1997 in Berlin lebende Multitalent nicht leben. So nahm Eldagsen Aufträge an, die drei bis fünf Tage dauern, oft Wettbewerbe für Agenturen, bei denen er Ideen produzierte. Das war so gut bezahlt, dass er davon die restlichen drei Wochen im Monat leben konnte. Und unterrichtet hat er, aber nicht Schüler, sondern Erwachsene. Das macht er schon seit 20 Jahren, an Hochschulen in Deutschland und Australien und in Workshops zu seinen Spezialgebieten Inszenierte Fotografie und Kreativität, womit wir wieder bei der KI wären.
Arbeit mit Sandra Hüller
„Ich habe ein eigenes System zum Textprompten“, sagt Eldagsen. „Was alle verbindet, die mit KI arbeiten, ist, dass man gerne so viel mehr machen und ausprobieren würde. Die Features werden immer mehr, man kann sie nicht mehr bewältigen. Im Sommer 2022 war es noch überschaubar. Das war wie ein Urknall, seitdem bewegt sich KI beschleunigt in alle Richtungen.“
Die KI-Werkzeuge hat er sich selbst angeeignet, getreu der Frage, die er sich immer wieder stellt: „Was ist die beste Form für eine Arbeit?“ Es entstanden Arbeiten wie „Posthuman“, wo Performer zu sehen sind und es „mit ein bisschen Futurismus und ein bisschen Nietzsche darum geht, wie der Prozess der Evolution weitergehen kann“. Oder die frühen Inszenierungen mit der Schauspielerin Sandra Hüller, die er schon Ende der 1990er Jahre kennenlernte. Zwei seiner Videoarbeiten mit Hüller von 2007 hat er gerade mit KI hochrechnen lassen auf 4K, um sie in Pirmasens zu zeigen. Die eine Arbeit war eine Schaufensterinstallation, die Leute von der Straße aus in einem Fenster sehen, deshalb ist sie im Gegensatz zu der anderen, mystischen, auch nicht vertont.
„Sie hatte schon immer eine besondere Ausstrahlung, eine Aura“, schwärmt Eldagsen von der inzwischen oscarnominierten Schauspielerin, mit der er früher Spaßinterviews geführt und gefilmt hat und mit der er immer noch Nachrichten per SMS austauscht.
So wie er immer noch seine kleine Berliner Einzimmerwohnung in der von Galerien dominierten Torstraße besitzt („die Miete hat sich nie erhöht, 220 Euro kalt, ich habe noch acht Jahre, bis man mich wegen Eigenbedarfs rausklagen kann“), obwohl er seit einigen Jahren bei seiner Partnerin in Wandlitz wohnt, wo früher die DDR-Oberen ihre Promi-Siedlung hatten.
Eldagsens Verhältnis zu Pirmasens ist nicht so einfach. Sicher, seine Mutter, sein Bruder und seine Schwägerin wohnen da, und er besucht sie auch. Aber die Sache mit seinem Projekt für die 250 Jahre Pirmasens 2013 ging nicht gut aus. Er wollte ein Remake zu Werner Herzogs Film „,Fitzcarraldo“ drehen, bezogen auf Landgraf Ludwig, „der aus Pirmasens eine Exerzierstadt gemacht hat und die Schuhindustrie begründete, denn marschierende Soldaten brauchen Schuhe.“ Eldagsen fragte Hüller, ob sie Klaus Kinski spielen würde, der wiederum Landgraf Ludwig spielte, ansonsten sollten Statisten aus der Region engagiert werden. Hüller wollte, die Stadt Pirmasens hingegen wollte nicht.
Dass Boris Eldagsen seine Aufsehen erregende Ausstellung „Trauma Porn“, die im November 2023 in Augsburg zu sehen war, nicht in Pirmasens zeigt, liegt jedoch nicht an der Stadt. Diese experimentelle Installation in 200 Teilen, die sich mit den psychologischen Langzeitfolgen des Krieges auseinandersetzt, enthält Fotos aus Nazi-Deutschland und dem Zweiten Weltkrieg als Ausgangsmaterial für ungewöhnliche KI-generierte sowie KI-bearbeitete Bildwelten. „Trauma Porn“ allein hätte schon eine der beiden Etagen in der Alten Post gefüllt, dann wäre es nichts mit der Retrospektive geworden. Und nur Ausschnitte davon zu zeigen, wollte er nicht. Aber was nicht ist, kann ja noch kommen. Wenn Eldagsen dann nicht schon wieder ein neues Projekt hat, denn wie sagt er so schön: „Ich habe mehr Ideen als die Zeit, sie umzusetzen.“
DIE AUSSTELLUNG
Die Ausstellung, Boris Eldagsen - Zurück in die Zukunft: Retrospektive 1988 bis 2023“ im Pirmasenser Forum Alte Post läuft vom 10. Februar bis 7. April: Mi-So 10-17 Uhr. Vernissage am Freitag, 9. Februar, 19 Uhr, ein. Es sprechen Denis Clauer, Charlotte Veit und Frederic Krämer. Am Sonntag, 11. Februar, 15 Uhr, hält Boris Eldagsen - ebenfalls in der Alten Posteinen Vortrag zum Thema „Wie kreativ ist Künstliche Intelligenz? Ein Fazit nach 1,5 Jahren Praxis“.